Eine Weihnachtsgeschichte
07.12.2020
Mich hatte eine Wohngruppe zu ihrer Weihnachtsfeier eingeladen. Die Mädchen und Jungen wohnen dort, weil es gut ist, dass sie da wohnen.
Ich hatte sie immer wieder bei Projekten einbezogen, die ich seit einigen Jahren mit ausländischen Mädchen und Jungen durchführe, die hier wohnen, weil es wohl gut ist, dass hier wohnen.
Das Foto zeigt Mustafa aus Afrika bei einem solchen Herbstferiencamp.
Unter Abwägung aller möglichen Corona-Aspekten, beschloss ich, der Einladung zu folgen.
Doch was bringt man als Präsent mit? Ich entschied mich für eine Geschichte.
Zu Weihnachten erzählt man sich Geschichten.
Folgenden Text habe ich am selben Tag „runter“geschrieben und auf der Feier am 07.12. gelesen:
„Meine Weihnachtsgeschichte für euch!
Ich habe für euch eine Geschichte geschrieben, in der ihr vorkommt.
Ich weiß nicht, wer von euch damals bei unserer ersten gemeinsamen Exkursion nach Sachsenhausen dabei war.
Anschließend hatten eure Betreuer ein Essen organisiert.
(Es erinnerten sich drei Mädchen und Jungen - wohl wegen des Essens.)
Ich hatte mich über die Einladung gefreut, bin mit euch über das Gelände der Gedenkstätte gegangen und hatte mich zum Schluss mit einem Satz von euch verabschiedet – vielleicht erinnert sich jemand...
(es erinnerte sich niemand an den Satz.)
Dieser Satz ist aber wichtig.
Er kommt am Ende dieser Geschichte und hat eine Vorgeschichte, die ich euch nun erzählen möchte:
Es begab sich zu der Zeit, da ich um die 15 Jahre alt war, etwa 1967.
Ich lernte in einer Schule, wo wir Schüler von acht bis sechzehn Uhr waren. Es war kein Internat sondern eine Dorfschule in einem großen Schloss in der Uckermark.
Zwischen meinem Elternhaus, einem Neubauernhaus, und dem Schloss lag ein Fußballfeld. Ich konnte immer schnell in die Schule gelangen und genauso schnell zurück sein.
Viele Lehrer waren jung. Nach dem Unterricht spielten sie oft bis es dunkel wurde mit uns Volleyball .
Manchmal ging es hitzig zu. Einige waren nur Zuschauer, weil sie nicht so gut spielen konnten – ich schaute oft zu. Ich konnte gut rennen.
Mein Klassenlehrer hatte sich nach dem Unterricht nicht umgezogen, sondern war direkt von der Schule zum Volleyballplatz gekommen und spielte im weißen Oberhemd und grauer Bügelfaltenhose.
Seine Mannschaft war am verlieren.
Jemandem fiel auf, dass das Hemd des Lehrers Initialen trug, die nicht zu seinem Namen passten…
Der Lehrer hieß Eberhard B. und die aufgestickten Buchstaben waren A.M.
Spekulationen über die Bedeutung der Initialen eröffnete der Geschichtslehrer, der in der Gewinnermannschaft spielte.
„Alte Maus“, rief er nach einem Schmetterball, den mein Klassenlehrer nicht parieren konnte. Alle lachten.
Der schaute böse und holte den Ball aus einem Gebüsch…
Die Sportlehrerin, die mit dem Geschichtslehrer zusammen spielte, steigerte den Frust meines Lehrers noch, indem sie sagte: „Eigentlich müsste da stehen A.N. – allgemeine Niete.“
Jetzt johlten alle Lehrer und Schüler und ich Unglücksrabe wiederholte: „Allgemeine Niete!“
Mein Lehrer bekam einen roten Kopf, ließ den Ball fallen und verließ den Volleyballplatz.
Als er bei mir vorbei ging fauchte er:
„Heute Abend Elternbesuch! – 19:00 Uhr bin ich bei deinen Eltern!“
Damals waren Elternbesuche der Lehrer zwei mal im Jahr üblich.
Vor einem Elternbesuch hatte ich keine Angst. Außerdem kam mein Klassenlehrer mit dem Mathematiklehrer wenigsten einmal im Monat zum Skatspielen mit meinem Vater zu uns nach Hause – da wurde (wie ich später mitbekam) überhaupt nicht über mich gesprochen.
Wenn es aber in den Elternbesuchen um uns Schüler ging, dann wurde über alles geredet: über die Schüler, die Lehrer und die berufliche Zukunft.
So einem Elternbesuch verdanke ich übrigens, dass ich Nichtraucher bin – aber das ist eine andere Geschichte.
Aber zurück zu: „Heute Abend Elternbesuch! – 19:00 Uhr bin ich bei deinen Eltern!“
Das hörten auch alle anderen, und niemand hatte mehr Lust auf Volleyball, obwohl es erst gegen 17 Uhr war.
Langsam und wortlos verließen sie den Platz und gingen nach Hause.
Als die Sportlehrerin an mir vorbei ging sagte sie leise:
„Ich versuche mit ihm zu reden – du hast ja nur wiederholt was ich gesagt hatte…“
Aufgewühlt kam ich nach Hause und erzählte am Küchentisch meinen Eltern was geschehen war, und dass der Klassenleiter am Abend zum Elternbesuch kommen würde.
Meine Mutter legte die Hände in Schürze und meinte leise: „Wer weiß, was ihm da über die Leber gelaufen ist.“
Mein Vater sagte nachdenklich:
„Auch wenn du es nur wiederholt hast, hat es ihn irgendwie verletzt. Am besten gehst du zu ihm und entschuldigst dich. Und natürlich kann er zum Elternbesuch kommen.“
Verwirrt klingelte ich an der Tür meines Lehrers. Es dauerte bis er öffnete. Sonst bat er mich immer herein. Dieses Mal nicht. Wortlos schaute er mich fragend an.
Sonst kam ich mit ihm gut klar, aber jetzt tat sein Blick weh.
Ich stammelte:
„Meine Eltern haben gesagt, dass sie kommen können. Und ich will mich entschuldigen…“
Ich wich seinem Blick aus: „…aber ich habe doch nur wiederholt…“
Der Lehrer sagte müde: „Ich überlege mir noch, ob ich heute Abend zu euch kommen werde…“
Scharf fügte er hinzu: „Man sollte sich schon überlegen, was man so sagt – auch wenn man nur etwas nachplappert…“
Er schloss die Tür und ich schlich nach Hause.
Meine Eltern und ich warteten, aber mein Lehrer kam nicht.
Ich schlief fast nicht, und am nächsten Tag zitterte ich den Unterrichtsstunden mit meinem Lehrer entgegen.
Der Lehrer vermied jeden Blickkontakt zu mir. Auch wenn ich mich meldete übersah er mich.
Das war unangenehm, zumal es drei Stunden waren, die wir gemeinsam hatten.
Nach dem Schulschluss, also nach 16:00 Uhr, ging dieses Mal niemand zum Volleyballplatz.
Ich wartete in einer Ecke des Schulhofes auf den Lehrer.
Er hatte mich bemerkt, aber verließ das Schulgelände ohne auf mich zu reagieren.
Ich rannte einen Umweg zu seiner Wohnung. Dort setzte ich mich auf die Treppe im Hausflur und wartete.
Als der Lehrer kam schaute er mich erstaunt an: „Du bist aber schnell…“
„Ja“, sagte ich und stand auf, „und ich will mich entschuldigen!“
Langsam ging ich Treppe herunter dem Lehrer entgegen. Als ich auf seiner Höhe war, sagte er leise ohne mich anzusehen:
„Morgen spielst du in meiner Mannschaft. Sag den anderen, dass morgen wieder Volleyball ist.“
Meine Gefühle von damals erinnere ich noch heute – es war, als hätte ich beim Fußball ein Tor geschossen. Fußball konnte ich etwas besser als Volleyball.
Am nächsten Tag spielten wir Volleyball. Unsere Mannschaft verlor.
Ich beobachtete meinen Lehrer aus den Augenwinkeln besonders dann, wenn ich einen Ball verschlagen und Schuld an Punktverlusten hatte.
Er sagte die ganze Zeit kein Wort – aber irgendwie hatte er ein Grinsen im Gesicht.
Es wurde schon dunkel, als alle nach Hause gingen.
Der Lehrer hatte auf mich gewartet und begleitete mich schweigend über den Fußballplatz nach Hause.
Zur Verabschiedung reichte er mir die Hand und sagte den Satz, den ich euch damals in Sachsenhausen gesagt hatte.
Er sagte:
„Egal wer es sagt:
Lass dir von niemanden einreden, dass du schlecht bist!“
Der Mann ist schuld, dass ich Pädagoge werden wollte und es wurde."